28
Jan
2014

Visionäre Begabung

In ihrer frühen Kindheit verfügen alle vernunftbegabte Lebewesen über visionäre Begabungen. Der naive Geist ist noch von aller Erziehung ungestört offen für das, was ihm seine Fantasie offenbart.

Was für Erwachsene wie Spielen aussieht, vollzieht sich in Wahrheit als fantasievolles Probehandeln des Geistes. Die Fantasie inszeniert für ihn jene Bilder, welche den gerade gegenwärtigen Stimmungen und Bedürfnissen entsprechen. Die Bilder sollen dem kleinen Lebewesen durch fantasievolles Übernehmen von Rollen helfen, seine Bedürfnisse zu befriedigen.

Ein wilder Indianer, der mit Pfeil und Bogen durch den Dschungel streift, befreit sich aus seiner Gefahr, indem er seine Angreifer tötet. Die Fantasie bietet dem jungen Wesen eine unmittelbare fiktive, scheinbare Auflösung seiner miesen Situation an. Durch die Flucht in eine fantastische Vorstellung weicht das Kind seinem Problem aus.

Vor die Realität wird gleichsam eine verfremdende Kulisse geschoben, die das Geschehen umdeutet und umgestaltet. Die Realität wird verdrängt und findet gleichsam gar nicht statt. Das kleine Wesen nimmt die Quälerei durch Bezugspersonen nicht zur Kenntnis.

Dieses exemplarische Beispiel für die Kraft einer fantastischen Fiktion lässt zugleich die Fantasietätigkeit als Veranlagung zur visionären Kraft hervorscheinen.

Im Gegensatz zur fantastischen Vorstellung handelt es sich bei der Vision um ein Innenbild, das Wirklichkeit nicht umgestaltet, sondern Wirklichkeit religiös oder künstlerisch deutet. Die Entwicklung der Vision lässt sich mit der Entwicklung einer Fantasie nur bedingt vergleichen.

Während die Tätigkeit der Fantasie neben vorhandenen Bedürfnissen vor allem von Erfahrungen initiiert wird, bilden sich Visionen allein durch Antriebe, Bedürfnisse und schöpferisch gestalterische Begabungen.

Fantasien wie Visionen erfahren ihre Kraft durch starken Glauben. Schon mit fünfzehn Jahren wird Hildegard von Bingen bewusst, dass sie ihre seherischen Fähigkeiten einer besonderen Begabung verdankt. Das junge Mädchen stellt fest, dass sie Dinge sieht, die anderen Kindern verborgen bleiben. Verständlicherweise behält das Mädchen dieses Geheimnis für sich. Das Bewusstwerden geht einher mit ihren ersten klösterlichen Erfahrungen des hoch sensiblen und leicht kränklichen Mädchens, hoch wahrscheinlich durch frühes meditatives und asketisches Leben unterstützt.

Währen die ersten Visionen der Jugendlichen folgenlos bleiben, stellen sie sich der etwa vierzigjährigen Hildegard schließlich als Auftrag Gottes dar. Die innere Stimme trägt ihr auf, ihre Visionen aufzuschreiben, um sie anderen erlebnisgetreu beschreiben zu können.

Zweifel an der Wahrheit der Visionen als Eingebungen Gottes quälen die junge Frau und lassen sie zögern, dem göttlichen Auftrag nachzukommen. Was, wenn es sich nicht um göttliche Eingebungen, sondern um teuflische Einflössungen handelt?

Hildegard von Bingen entscheidet sich schließlich mutig, ihre Aufzeichnungen von namhaften einflussreichen Theologen prüfen zu lassen. Aufgrund der Befürwortung durch Bernhard von Clairveaux gibt Papst Eugen III während der Synode in Trier 1147 Hildegard von Bingen die Erlaubnis, ihre Visionen zu veröffentlichen.

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Wolfgang F.A. Schmid

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