15
Mai
2020

Totzeit – Augenblick der Angst

„Totzeit“ ist der Name für den Sprung von einem systemischen Zustand in einen anderen wie beispielweise der Sprung aus der physischen (körperlichen) in die metaphysische (unkörperliche) Welt. Zu einem Sprung dieser Art gehört auch der Tod.
Weil Philosophie Sterben denkt, gilt sie seit jeher als Übung im Sterben. Die vorliegende Neufassung des Buches „Totzeit“ beschäftigt sich als ‚Philosophie des Todes“ vor allem mit dem, was während des Sterbens vor sich geht.
„Totzeit“ ist aber auch der Name für den Sprung vom Wissen in Glauben. Denken, welches diesen Sprung zu tun beabsichtigt, muss sich vergegenwärtigen, dass es sich bei „Wissen“ und „Glauben“ um gegensätzliche, unversöhnliche Arten und Weisen zu denken handelt.
Wissen strebt nach Richtigkeit, Glauben nach Wahrheit „Was ist Wahrheit?“ eine etwas spöttische Frage! Pilatus, der sie stellte, geht weg, ohne eine Antwort abzuwarten. Er weiß: Es gibt keine wahre und richtige Antwort! Ansichten sowohl von Wahrheit als auch von Richtigkeit verändern sich mit der Zeit.
Jeder muss die Alternative zwischen Wahrheit und Glauben für sich selbst entscheiden und auflösen.
‚Wahrheit’ der Wissenschaft ist die Richtigkeit der Übereinstimmung einer Aussage mit der ihrem Inhalt entsprechenden, empirisch überprüfbaren ‚Wirklichkeit’.
Wahrheit des Glaubens ist die Übereinstimmung einer Aussage mit der ihrem Inhalt entsprechenden, persönlich bzw. subjektiv oder intersubjektiv überprüfbaren Eingebung.
Aus Eingebungen erwachsen je nach Begabung und/oder Intelligenz wissenschaftliche und/oder künstlerische Ideen.
Hier fällt die Entscheidung für eine vorwiegend künstlerische Auswertung der Eingebungen. Über den zureichenden Grund für diese Entscheidung bin ich auf Mutmaßungen angewiesen.
Ich nehme an, dass dies mit einer hasserfüllten Kindheit zu tun hat, über die nur eine lebhafte Fantasie hinwegrettete.
Das bedarf wohl einer wenigstens kurzen Erläuterung. Noch im zweiten Weltkrieg geboren und in Bombennächten immer wieder wegen Fliegeralarm urplötzlich aus dem Schlaf gerissen, wurde Angst zum frühen existentiellen Ratgeber. Neben kriegerischer Bedrohung prägen vor al-lem heftiger Streit und mütterliche Verwahrlosung die ersten drei Lebensjahre.
Irgendwie hat sich vermutlich wohl der Rückzug in das Schneckenhaus „Fantasie“ als Überlebensstrategie herauskristallisiert. Die Scheidung der Eltern muss ein so schreckliches Erlebnis gewesen sein, dass es zur lebensbedrohli–chen Situation wurde. Erinnerungen an den wirklich äußerst wohltuenden Aufenthalt unter dem Sauerstoffzelt im Krankenhaus künden von ersten beglückenden Gefühlen, schützte er doch wenigstens für kurze Zeit vor Misshandlungen.
Aber statt eines Endes des Schreckens warteten neue schreckliche Erlebnisse auf mich. Eine Haushälterin, die mich abgrundtief hasste und deshalb ständig schikanierte, übernahm die Versorgung des Haushalts.
So wurde das Sauerstoffzelt im Krankenhaus zum existentiellen Modell und verhalf zum Schutz in einer Fantasiewelt. Diese gestaltete sich wahrscheinlich aus der kindlichen Spielwelt heraus.
Eine wichtige Rolle spielte später die Entdeckung des Buches „Bomba, der Junge aus dem Urwald“ in der Jugendbücherei der Pfarrei. Das rein fantasiemäßige Nachspielen der schrecklichen Ereignisse mit gefährlichsten Menschen fressenden Kopfjägern ermöglichte heimliches Abreagieren hoher Aggressionen und frühkindlich erfahrener Misshandlungen.
Die Entdeckung von Billy Jenkins durch ein Westernheft wandelte die Dschungel- in eine Westernwelt, in welcher dieser Gesetzeshüter für längere Zeit nachgespielt wird .
Der Transfer der Wirklichkeit in Fantasiewelten funktionierte sehr facettenreich. Nicht verwunderlich, dass auch der aufgezwungene Gottesdienst fantasievoll abgearbeitet wird und zur Gründung einer eigenwilligen fantasievoll gestalteten religiösen Welt führt, in der sogar Begegnungen mit Gott stattfinden.
Die erste Begegnung findet am Sonntagabend, eine Woche nach Ostern statt. Die Fantasie führt spontan vor das große Tor einer mehrfach gesicherten Festung. Sie lenkt den Blick auf eine Gestalt im langen weißen Gewand.
Jesus wartet bereits. Während er auf den Besuch zugeht, öffnet sich wie von Geisterhand das schwere schmiedeeiserne Tor. Jesus empfängt sehr freundlich, ohne zu berühren. Jesus führt zu einem Bauwagen unmittelbar rechts hinter dem Tor. Große Verwunderung, dass Jesus in einem Bauwagen wohnt auch dorthin einlädt, um am Ent-stehen von fantasievoll geplanten Bauwerken mitzuwirken.
Tatsächlich findet die Fantasie in der realen Welt das Leben als eine einzige Baustelle vor. Überall vom Krieg zerstörte oder höchst bedenklich baufällige Häuser. Die Fan-tasie bewegt dort das Leben, das in den Häusern stattgefunden haben mag. Und dort, wo tatsächlich noch Leben stattfinden könnte, fehlen liebevolle Beziehungen. In zerstörten Familien existiert kein Zuhause.
So lässt sich leicht erahnen, dass es in der idealen Welt zuerst einmal darum geht, alles von Grund auf neu aufzubauen. Und Gott der Bauherr übrtlässt seiner Architektin, der Fantasie, die Gestaltung nach ihren Wünschen und Sehnsüchten. Und so entsteht in der idealen Welt das, was die Fantasie in der realen Welt niemals vorfindet und je-mals vorfinden könnte. So plant sie eine Art herrliches Schloss, natürlich für Gott, in dem sie ihn jederzeit besuchen kann. Dieses Schloss soll von einem wunderschönen Park umgeben sein. Alles wird durch einen tiefen, unüberwindbaren Burggraben umgeben sein. Der Weg durch das große schmiedeeiserne Tor, der den tiefen Graben durch eine Hängebrücke überwindet, soll der einzige Zugang bleiben. Das Schloss und der Park selbst liegen hoch oben auf dem Plateau eines Berges, tief verborgen inmitten eines unzugänglichen Gebirges. Das alles braucht na-türlich sehr viel Zeit und so kommt es zu sehr vielen Be-gegnungen – vorwiegend vor dem Einschlafen – zwischen dem Bauherrn und seiner Architektin.
Mag sein, dass diese virtuelle systemische Fantasiemodell bereits das spätere Interesse an der Wissenschaft vorberei-tet.
‚Wahrheit’ der Wissenschaft entbirgt sich durch Experimente.
Wahrheit des Glaubens entbirgt sich durch Intuition. Wahrheit des Glaubens lässt sich entweder philosophisch oder religiös betrachten. Während in der Philosophie Logik dominiert, ist es in der Religion die Intuition.
Wahrheit ist der Name für das Entbergen durch Intuition. Wahrheit ist kein Moment, sondern ein Prozess des Entbergens. Wahrheit ‚lebt’ von der Empfindung für sie. Wahrheit ist sehr viel flüchtiger als Wissen. Deshalb versuchen Religionen, sie durch Dogmen und Heiligsprechungen zu konservieren.
Wahrheit kann aber auch der Name für jenes Ahnen sein, welches Etwas als etwas Ideales erwartet.
Glauben, Hoffen oder Lieben schaffen Wahrheit als positive Utopie.
Als Phänomen lässt sich Liebe nicht wissen, sondern allein glauben. Liebe ist also immer nur wahr und niemals richtig.
Als vollkommene Bejahung des Intuitiven ist allein Liebe einzige Grundlage allen Glaubens. Ob ein Glaubensinhalt wahr ist oder nicht, entscheidet die Liebe zur entsprechenden Intuition.
Glaubensinhalte lassen sich wissenschaftlich nicht belegen. Sie sind abhängig von der Anzahl ihrer subjektiven Zustimmungen wahr, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

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Wolfgang F.A. Schmid

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